DAS 3. KAPITEL. ,

3,1) Die Zeit vergeht, und Er ist nicht wiedergekommen. Er hat bezüglich des Versammlungsortes ihr nicht entgegenkommen wollen. Sie hat sich davor gefürchtet, sich selbst zu verlieren, wenn sie sich in diese andere Welt, in sein Land, hätte hineinziehen lassen. Sie weiß wohl, dass sie Ihn da bekommen würde, denn nicht Ihn fürchtete sie zu verlieren, sondern sich selbst. Sie überlegt also: Was hilft es mir, dass ich Ihn da bekomme, wenn ich dadurch mich selbst und meiner Mutter Haus (mein weltliches Heim) verliere? Ich habe ja dann nichts, worin ich Ihn besitzen kann. Ich bin ja dann von allem in mir selbst und in meiner Umgebung entblößt, wodurch ich Ihn empfinden und mich der Vereinigung mit Ihm erfreuen könnte. Aber wenn seine Abwesenheit sich in die Länge zieht, kann sie dennoch nicht länger warten. Alles in ihr sehnt sich nach Ihm, den sie mehr als ihr eigenes Leben liebt. Dann sucht sie Ihn in den stillen Stunden, welche sie in der Nacht hat, sucht Ihn in sich, in dem Innersten ihrer Seele, als dem alten Versammlungsort, findet Ihn aber nicht. Sie findet nur seine Abwesenheit, und dieser Zustand ist bitter, dürre und beängstigend. Aber nach und nach fängt seine Abwesenheit an, sie etwas zu lehren und mit ihr zu handeln. Sie macht sie von ihrem inneren Versammlungsort los, wo Er ihr vorher so lieblich begegnete.

Dieser Versammlungsort liegt jetzt zerstört und wüst. Sie findet da nichts anderes als Treulosigkeit. Die Zurückgezogenheit, welche vorher so voll von Freude und Leben und Frieden im Umgang mit Ihm war, bereitet ihr jetzt Unruhe und Angst. Sie sagt: Auf meinem Lager in den Nächten suchte ich, den meine Seele liebt; ich suchte ihn und fand ihn nicht. Sie findet keine Ruhe in der Ruhe. Sie sucht Ihn da, sie sucht Ihn in der inneren Stille, aber sie findet Ihn nicht.

3,2-3) Diese Unruhe scheucht sie schließlich aus ihrer Ruhe auf und hinaus, aber nicht direkt zu Ihm, sondern in die Welt hinaus, um Ihn da zu suchen. Sie sucht Ihn auf den Strassen und dem Markt (Kirchen) der Stadt, sie sucht Ihn in Menschen, in Dingen, im Wesen der Welt, und glaubt bei sich selbst, Ihn, den Verborgenen, da verborgen finden zu können. Er ist da, aber sie kann Ihn nicht finden, bevor sie direkt zu Ihm selbst geht - dann sieht sie Ihn in allem.

Und wiederum klagt sie: Ich suchte ihn und fand ihn nicht. Sie begegnet den Wächtern, nämlich denen, die über die religiösen Menschen wachen und sie leiten, und fragt sie: Habt ihr den gesehen, den meine Seele liebt? Es ist eine Frage an die, die Ihn am besten kennen und wissen sollten, wo Er zu finden ist! Sie haben keine Antwort, und sie geht an ihnen vorbei.

3,4) Wenn sie an allem vorbeigegangen ist, siehe, dann lässt Er sich, von ihrer Unruhe und ihrem Leid bewegt, von ihr finden und ergreifen und wiederum in ihr Inneres (den inneren Versammlungsort) ziehen. Er kommt ihr in dieser Weise entgegen, damit sie nicht ganz auf dem Wege verschmachtet. Er hat sie noch nicht dahin gekriegt, wo Er sie haben will; obwohl Er im Augenblick nachgibt. Aber er hat das Werk nicht aus den Händen gelassen, obwohl Er im Augenblick nachgibt.

3,5) Also bewegt ist Er jetzt in ihrem Inneren zu Gast, und sie lässt sich wieder in seinen Armen verlieren. Gleichwie in Kap.2,7 fleht sie die Töchter Jerusalems an, die Liebe nicht zu beunruhigen, noch zu stören, bevor sie es selbst will. Dann schläft sie nach und nach in seinen Armen sein. Dies ist das zweite Mal, dass sie die Sabbath-Ruhe schmecken darf. Die Sabbath-Ruhe, die darin besteht, dass sie sich selbst in seinen Armen verliert. Sie ist jetzt noch mehr müde als das vorige Mal. Sie fängt an einzusehen: Je mehr erschöpft und ohnmächtig ich bin, um so mehr werde ich reif für die völlige Sabbath-Ruhe, und um so näher komme ich zum Ziel. Ab und zu vernimmt sie etwas davon, mitten im Schlaf, gleichwie sie auch vernimmt, dass dieses nicht das vollkommene  Verlieren ihrer selbst ist (vor diesem weicht sie noch zurück), sondern nur ein Vorgeschmack davon, eine Zubereitung dafür.

3,6) Zwischen dem 5. und 6. Vers ist wieder eine Pause in der Zeit. Es ist ein Festzug, der in diesem und den folgenden Versen beschrieben wird. Jetzt ist die Braut so weit zubereitet, dass sie zu der Stadt des Königs (der Christenheit auf Erden) geführt werden kann, wo die Hochzeitsfestlichkeiten anfangen und eine Zeit dauern; denn die Braut ist ja noch nicht fertig. Man muss sich denken, dass die Vermählung am Ende dieser Zeit stattfinden wird. Die Braut kommt von der Wüste herauf. Sie hat eine Zeitlang in der Wüste des Glaubens gelebt, sie ist ihr eine Wüste der Entblößung geworden, in der sie jedoch von Zeit zu Zeit den Besuch des Bräutigams bekommen hat, Und von wo aus sie selbst Ihn gesucht hat, nach der inneren Weise. Zuletzt ist sie auch bezüglich ihres Glaubens entblößt worden. - Er hat ja so lange gezögert, um sie ganz und für ewig zu sich zu nehmen. Aber gerade als sie in dieser Demütigung niedergesunken ist, ist sie von Ihm geholt worden. Nun kommt sie da in einem prachtvollen Zug. Schön ist sie wohl für den Bräutigam, aber es ist nicht ihre Schönheit, welche hier hervorleuchtet, es ist Seine Herrlichkeit und Macht, die sie auf allen Seiten umgibt und den Zuschauern entgegenstrahlt in diesem Zug. Sie kommt umduftet von Myrrhe und Rauchwerk. Die Myrrhe, die bitterliebliche, welche die Leidenskraft der Liebe bis zum Tode hin bezeichnet, ist sozusagen das Parfüm des Bräutigams. All das Schöne und Mächtige, was sie umgibt, ist Sein, alles hat sie von Ihm.

3,7-9) Sechzig auserlesene Helden umgeben das Tragbett. So teuer ist sie, die darin getragen wird für ihn. Er sendet seine Heiligen, sie auf dem Wege zu Ihm zu begleiten und zu schützen. Sie haben ihre Schwerter an ihren Lenden zur Wehr gegen die Gefahren der Nacht. Ihr Schwert ist das Gotteswort; kein Hindernis kann solchem Schwert widerstehen, keine Räuberschar böser Geistesmächte kann hier ihre Absichten ausführen. Die Gefahren der Nacht bezeichnen finstere Geistesmächte. Das Tragbett ist prachtvoll. Es ist ein Bild seines Thrones und seiner Herrlichkeit. Sein Holz ist vom Libanon, also das edelste Holz, das es gibt. Libanon bezeichnet das Hohe und Abgesonderte (hier das Heilige), das worin sie leben soll, wo sie in Ruhe niedersinkt.

3,10) Die Säulen des Tragbettes hat Er von Silber gemacht, seine Lehne von Gold, den Sitz von Purpur. Das Silber bezeichnet die göttliche Wahrheit und Weisheit. Diese gehen beständig von Gott aus zu dem Menschen, der in der Ruhe in Ihm sich unter all das beugt, was Er schickt, in den Staub vor Ihm niedersinkt, bis zum Geringsten niedersinkt. Sie bilden die Säulen an dem Tragbett Gottes, in welchem sie bis ans Ziel getragen wird. Diese Säulen kann die Braut nicht entbehren, und sie wird sie auch nie, unterwegs entbehren können. - Gold bezeichnet die göttliche Güte und Liebe. Auch diese gehen beständig von Gott aus zu einer solchen Brautseele und bilden die Rückenlehne des Tragbettes. Die Rückenlehne ist noch notwendiger als die Armlehnen; auch diese wird sie unterwegs nie entbehren. - Der purpurrote Stoff bedeutet des Sohnes Gottes, des Bräutigams Blut, das für sie vollendete Heilswerk, womit Er sie erkauft hat und wodurch sie zu einer Himmelsbewohnerin und zu seiner Braut wird. Der Sitz ist noch notwendiger als die Rücken- und Armlehnen. Dorthin fließt auch die von Gott beständig ausgehende Kraft zuerst, und dann von dort aus zu der Rückenlehne und durch die Rückenlehne zu den Armlehnen. Die Kraft von Gott geht also ständig und unaufhörlich zu dem von ihr empfangenen Blute Jesu Christi (welches sie in sich hat, um dadurch die reine Kraft Gottes zu werden, welche ihren - Rücken stützt und ihr inneres mit Güte und Liebe erfüllt), um von dort hinaus zu der reinen Gabe Gottes weiterzuströmen, die sie auf rechtem Wege erhält, so dass sie nicht aus dem Tragbett hinausfällt; weder rechts noch links, und die ihr Wahrheit und Weisheit schenkt (die Armlehne von Silber), woraus die bereiteten Taten der Güte und der Liebe, ihr unbewusst, in die Umgebung hinausfließen. Aber es ist wohl zu merken, dass all dieses Gottes ist und bleibt, und dass es nur durch das Herabsinken und das ständige Versinken bis in die Tiefe des Nichts ihr zuteil werden kann, so dass sie es in Ihm besitzt. - Das Inwendige des Tragbettes ist kunstvoll gestickt, aus Liebe, von den Töchtern Jerusalems. Dies bezeichnet, dass die Gebete und die Betrachtungen der Gläubigen bezüglich des Brautverhältnisses zur Ausschmückung des Inneren des Tragbettes werden.

3,11) Zions Töchter (die übrigen Einwohner der Stadt; Jerusalems Töchter sind das Hofvolk) stellen die Nichtgläubigen der Christenheit dar. Diese werden ermahnt, hinauszugehen, und den Bräutigam mit Lust zu schauen, Ihn an dem Tage seiner Herzensfreude in all seiner Herrlichkeit zu schauen, Ihn als den gekrönten Sieger zu schauen, der gesiegt hat und siegen wird über alles Böse und Hemmende, welches der Braut gedroht hat und noch droht. Sie werden gerufen, damit auch sie, wenn möglich, von Ihm ergriffen werden möchten, um den Brautweg zu betreten. Aber die Töchter Jerusalems und Zions (die Christenheit auf Erden) können wohl Brautseelen bewundern; aber sollten sie eine  solche empfangen, müssten sie ja selbst ihr gleich werden, und das kostet sie zuviel. Deswegen sind sie nicht für die Hochzeit bereit. Sie ziehen sich zurück und lassen die Braut ihren Weg gehen. Und darum zeigt es sich am Ende, dass weder die Stadt des Königs noch die Braut für die Hochzeit bereit sind.