DAS 2. KAPITEL. (Verlobungszeit)

2,1) Das Vorhergehende haben wir die Werbezeit genannt. Das nun folgende wollen wir die Verlobungszeit nennen, um damit zu bezeichnen, dass das Verhältnis in eine neue Entwicklungsstufe getreten ist, die eine festere Vereinigung mit sich bringt, aber doch nicht die vollkommene, nämlich die eheliche. - Die Braut sagt: Ich bin eine Narzisse Sarons, eine Lilie der Täler. Wegen all der Liebe, deren Gegenstand sie ist, fühlt sie ihre Unwürdigkeit um so mehr. Jedoch kann sie nicht verleugnen, dass sie von Wert für Ihn ist. Sie ist eine Blume, obgleich eine geringe. Sie ist eine Narzisse Sarons. Es gibt nichts Bemerkenswertes an ihr. Saron ist auch nichts Besonderes, bloß eine Ebene, aber eine Ebene, die weger! ihrer Fülle von Blumen bekannt war. Ein e Blume in der Menge der Blumen zu sein, heißt gewiss eine geringe zu sein. Eine Lilie unter allen Lilien im Tale (das Niedrige) ist nichts Besonderes. Wer sollte wohl gerade auf sie schauen? Als solche muss sie davon abstehen, von den vielen gesehen und von ihnen bewundert zu werden. Sie muss dem Verlangen entzogen werden, sich auszuzeichnen und etwas unter den Menschen zu bedeuten. Deswegen ist es auch ein unfassbares Wunder und eine überwältigende Gnade, dass Er seine Blicke auf sie geworfen hat. Aber eben dies macht aus, dass sie sich geringer als alle anderen empfindet, und dass sie danach streben muss, die Gewöhnlichste von allen zu sein. Es gibt nichts, was einen Menschen dermaßen in den Staub beugt, als die Gnade. Sie erhöht sie, und eben damit entkleidet sie sie aller ihrer eigenen Vorzüge. Sie sehnt sich nicht einmal nach irgendeinem Vorzug.

2,2) Der Bräutigam antwortet: Wie eine Lilie inmitten der Dornen, so ist meine Freundin inmitten der Töchter. Er nimmt ihre Worte auf, aber Er erhebt sie, so dass sie einen andern Inhalt bekommen. In ihren Worten und in ihrem Wesen hat sie sich neulich von jedem Vorzug entkleidet gezeigt. Ja, sagt Er, entkleidet bist du eine reine, liebliche, duftende Lilie, eine Einzige, mitten unter Dornen. Die andern, die meinen, sie seien Lilien, welche sich über die Menge erheben, sind Dornen, denn sie wandern ihre eigenen Wege und wollen selbst leuchten. Sie wollen die Lilie für sich rauben, dadurch dass sie selbst die Einzige sein wollen; deswegen stechen und reißen sie die Lilie bei andern.

2,3) Sie antwortet: Wie ein Apfelbaum unter den Bäumen des Waldes, so ist mein Geliebter inmitten der Söhne; ich habe mich mit Wonne in seinen Schatten gesetzt, und seine Frucht ist meinem Gaumen süß. Er ist ein Baum des Lebens unter den Bäumen des Todes. Alle andern sind Diebe und Räuber und Mörder, alle, die in ihrer geistlichen Verkündigung sich selbst suchen und etwas Großes in der Welt durch sie werden wollen. Sie sind den Dornen zu vergleichen. Aber Er ist ein Baum, der sich selbst als Speise und Trank gibt, und Schutz gibt gegen alles was schaden kann. In dem Schatten dieses Baumes will sie sitzen und sich von dem Duft des Ewigen umweht fühlen. Da findet sie Ruhe und Frieden. Da findet sie himmlische Frucht, womit sie sich nährt (die Frucht seines Werkes auf der Erde.) Er selbst ist das Brot und der Wein, wovon sie lebt, und lieblich sind sie in ihrem Munde. Sie wird berauscht von diesem Essen und Trinken, und plötzlich findet sie sich in den Weinsaal hineingeführt, den für alle offenen Saal der Freude, den Saal der Hoffnungen und Träume.

2,4-5) Er hat mich in das Haus des Weines geführt, und sein Panier über mir ist die Liebe, sagt sie. Er selbst ist es, der sie da hineingeführt hat, und Er selbst ist der berauschende Wein, der sie aus sich selbst hinaus und in seine Arme führt. Sie ist dabei, von allem eigenen Guten entkleidet zu werden, denn durch den Genuss dieses Weins verliert sie alles Denken an sich selbst und alles Achtgeben auf ihr Eigenes. Sie kann sich da nur Ihm hingeben. Sie wird entblößt, und dieses macht sie matt, hilflos und ängstlich. Sie verschwindet mehr und mehr vor sich selbst, und dieses ruft Schwindel bei ihr hervor, einen Schwindel, der nur Hilfe in der Hingabe an Ihn finden kann. Aber dies ist noch kein Zustand bei ihr, es ist etwas Vorübergehendes, nur ein Vorgeschmack von einem künftigen, beständigen Zustand, der dem gegenwärtigen nicht in allem gleicht. Bei all diesem Eigentümlichen und Wunderbaren, das ihr hier geschieht, fühlt sie sich ruhig, weil seine Liebe, sein Panier über ihr ist. - In ihrer Mattigkeit und Hilflosigkeit sagt sie: Erquicket mich mit Traubenkuchen, stärket mich mit Äpfeln; denn ich bin krank vor Liebe. Wenn all das, was in der Welt ihre Selbstachtung stärkt, für sie verschwindet, fühlt sie sich krank; es ist die Liebe, die sie dahingebracht hat. Aber vor Liebe krank zu sein ist ein Reichtum, höher als all das Verlorene, und sie, welche krank ist vor Liebe, wird auch von der Liebe erquickt und gestärkt, wenn sie die Früchte seiner Liebe isst und trinkt.

2,6-7) Die Liebe, welche sie zu der äußersten Ohnmacht gebracht hat, gibt ihr jetzt Ruhe an seinem Busen. Sie kann aufatmen in der leben gebenden Liebe, welche von Ihm in sie hineinströmt und von ihr zurück in Ihn. Aber noch kann die Liebe durch ihre Umgebung beunruhigt und gestört werden; denn noch kann sie nur hin und wieder mit dem Geliebten zusammen sein. Die Geistlichkeit der Welt, die Geistlichkeit von unten her, geht gleichsam ein und aus bei ihr, auch wenn sie mit Ihm zusammen ist; und sie fleht ihre Vertreter, die Töchter Jerusalems an, die Liebe nicht zu beunruhigen noch zu stören, bis sie selbst erwachen will. Sie beschwört sie, dass sie mit Ihm allein sein möchte, damit sie Ruhe in seinen Armen finden kann, um darin einzuschlafen. Für eine Weile darf sie das. Für eine Weile genießt sie die Sabbath-Ruhe, welche darin besteht, dass alle Verantwortung und alle ihre Sorgen auf Ihn gelegt sind, indem Er sie trägt. Aber diese augenblickliche Sabbath-Ruhe bürgt dafür, dass sie im Glauben darauf vertrauen kann, dass Er sie weiterhin durch alles tragen wird, den ganzen Weg bis zum Ziel. Während solcher Stunden ist sie so klein, Ihm so überlassen, so unterworfen, so still, als wäre sie schon am Ziel- angelangt.

2,8) Zwischen den Versen 7 und 8 ist eine Pause in der Zeit. Während dieser Pause ist der Bräutigam abwesend gewesen, was ihr viele Ängste verursacht hat, viele Zweifelsgedanken und brennende Dürre der Seele. Aber Er hat mit allem, was Er sie durchmachen lässt, seine Absicht. Es gibt keine und kann keine einzige Sache in ihrem Leben geben, die nicht ein Glied in der Kette ist oder wird, welche zu der vollkommenen Vereinigung mit Ihm hinleitet. Wenn sie nach dem siebten Vers erwachte und sich verlassen fand, trieb sie seine Abwesenheit dazu, in sich zu gehen, und Ihn aufs neue in ihrem Herzen zu suchen. Für einige Augenblicke hat Er sich dann in ihrem Insichzurückgezogensein finden lassen, aber dann hat Er sich für sie wieder verborgen. In dieser Zwischenzeit hat sie zwischen Hoffnung und Furcht pendeln müssen. Ihr Herz hat sich verirrt gefühlt. - Nun kommt Er wieder, aber nicht wie vorher in ihr, sondern von außen um sie herum. Sie hört ihn auf sich zulaufen, und sie jauchzt: Horch, mein Geliebter! Über Berg und Hügel, über alle Hindernisse kommt Er zu ihr. Sie sieht Ihn, und Er wird größer als alle Berge und Hügel, größer als alles, was hindern kann, sowohl außerhalb als innerhalb von ihr'

2,9) Schnell und schön wie eine Gazelle oder ein junger Hirsch ist Er, und nun steht Er da, außerhalb der Wand ihres Hauses. Ihr Haus bezeichnet den äußeren Menschen. Er steht außerhalb und schaut auf ihn Inneres hinein. Durch diesen Blick dringt Er in sie hinein, obgleich Er außerhalb ist. Sie sieht Ihn jetzt sowohl in ihrem Innern, wo sie sich zurückgezogen hat, als auch außerhalb stehen, wenn sie aus sich heraustritt. Aber dadurch erscheint Er ihr wie geteilt. Sie kann Ihn nicht ganz und völlig besitzen, obgleich Er so nahe, ja sogar in ihr ist. Sie befindet sich hinter Fenstern und Gittern. Sie ist eine Gefangene, und nur durch das Gitter kann sie Ihm begegnen. Aber Er will sie befreien.

2,10) Er sagt: Mache dich auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm! Sie darf Ihn jetzt nicht länger ganz und ungeteilt in der Zurückgezogenheit besitzen. Er ist nicht länger nur in ihr, sondern auch (und vorzugsweise) außerhalb. Sie darf nicht nur in den engen Grenzen ihres Hauses bleiben. Er lädt sie ein, hinaus zu Ihm in sein Land zu kommen. Sein Land ist das Himmlische, und zudem hat Er eine himmlische Wohnung für sie, himmlische Landschaften und himmlischen Umgang. Und dieses Himmlische befindet sich auch mitten in der Welt, und ist das Wesen selbst in allem, was es gibt. Wenn Er sie nicht da hinaus bekommen kann, bleibt sie zurück in dem Irdischen, in der Geistlichkeit von unten her, stehend unter den Töchtern Jerusalems, und verliert die geistlichen Schätze.

2,11) Denn siehe, der Winter ist vorbei, der Regen ist vorüber, er ist dahin. Es gibt zwei Arten von Winter für sie, einen äußeren und einen inneren. In dem Stadium, in dem sie sich jetzt befindet, ist es Sommer in ihrem Inneren, wenn der Winter im Äußeren herrscht; und Winter in ihrem Inneren, wenn Sommer im Äußeren ist. Vorher war Sommer in ihrem Inneren, und da hat sie sich in der Zurückgezogenheit mit Ihm gefreut. Aber jetzt ist Winter in ihr, und Er ruft sie zu dem Sommer außerhalb in sein Land hinaus, damit sie sich dort mit Ihm freuen soll. Alles in diesem Land ist für sie bereit. Alles steht wie zum Fest geschmückt. Sie hat nur seine Hand zu fassen und hinauszutreten.

2,12-13) Er mahnt lockend und bewegend: Die Blumen erscheinen im Lande, die Zeit des Gesanges ist gekommen, die Stimme der Turteltaube lässt sich hören in unserem Lande. Der Feigenbaum rötet seine Feigen, und die Weinstöcke sind in der Blüte und geben Duft. Dieses ganze wunderbare Gemälde malt Er vor ihr inneres Gesicht, damit es ihr Begehren erwecken soll, hinauszukommen, um die Wirklichkeit zu genießen. All das Wunderbare draußen ist sein, aber es ist sein, damit es ihr eigen werden soll. Wenn sie nicht die Besitzerin davon wird, kann Er keine Freude daran haben. Seine Blumen, Weinstöcke, Feigenbäume, Turteltauben - es ist dies und vieles andere, wovon sie Besitzerin werden soll, ja, sie besitzt es schon, aber sie besitzt es und soll es außerhalb ihrer selbst, in Ihm besitzen. All dies blüht und wird reif, damit sie in und von Ihm und seinem Land leben soll. Aber all dies ist völlig neu für sie, ein neues Land, eine neue Welt, welche sie nicht kennt. Sie vertraut wohl darauf, dass es so ist, wie Er sagt, und dass sie sich ruhig von Ihm dort hinausführen lassen kann, und dass sie dort auch alles bekommen wird, was sie braucht. Aber dennoch steigt ein Zweifel in ihr auf, und sie widerstrebt auf unerklärliche Weise. - Er mahnt wiederum: Mache dich auf, meine Freundin, meine Schöne und komm! Aber es ist, als wäre sie sein Gegner, sie kommt nicht.

2,14) Sie scheut sich, sie wagt sich nicht aus ihrem Versteck hinaus. Sie ist ergriffen von Furcht vor all dem Ungeahnten, das ihr in seinem Land begegnen kann. Sie ist unfassbar furchtsam, dass sie sich dort selbst ganz verlieren soll. Er bittet sie dann eindringlich: Meine Taube im Geklüft der Felsen, im Versteck der Felswände, lass mich deine Gestalt sehen, lass mich deine Stimme hören, denn deine Stimme ist süß und deine Gestalt ist anmutig. Du, meine Taube, meine einfältige, die du dich so wohl verschanzt hast, lass mich wenigstens dein Angesicht sehen und deine Stimme hören, bevor ich gehe. Ich brauche das sowohl um meinetwillen - denn deine Stimme ist so lieblich, und dein Angesicht so anmutig - als um deinetwillen - denn ich muss sehen, ob du innerlich im Herzen von der Hingabe so ergriffen bist und von der Unterwerfung (d.h. von der Liebe), dass du trotz deines jetzigen Widerstands nicht wieder frei werden kannst. Du bist es, und das ist für mich im Augenblick genug. Ich komme wieder, wenn dir die Füchse offenbar geworden sind; die Füchse, die im Inneren meiner Geliebten Verheerung anrichten, die leicht sich vermehren und die Weinberge für dich in meinem Land, deine und meine Weinberge, zerstören könnten.

2,15) Die Füchse bezeichnen die tausend und abertausend listigen Kniffe, wodurch die Seele sich aus der Unterwerfung ziehen und dennoch den Bräutigam behalten will, sich aus der Entblößung ziehen und dennoch ans Ziel kommen will. Ihr selbst unbewusst, will sie Ihn als Mittel verwenden, statt Ihn ihr Ziel sein zu lassen. Die ganze Welt, auch die religiöse, ist voll von solchen Füchsen, und überall wird die Braut von ihnen und ihren Versuchungen angetastet. Sie gehen ein und aus bei ihr. Und die kleinen Füchse sind die schlimmsten, weil sie sich leichter in ihrem Inneren verbergen können. Sie schaden ihrer inneren Brautstellung. Dies sieht sie wohl; aber wie sehr sie auch versucht, sie zu fangen, und die Hilfe anderer anruft, es gelingt ihr nicht. Der einzige, der sie fangen könnte, ist Er; aber das Eigentümliche ist, dass Er, an statt sie zu fangen, die Füchse bei ihr sich aufhalten lässt. Die Sache ist die: Er lässt a u c h die Füchse dem Werk in ihr, dem Werk der Entblößung dienen. Sie sollen ihr schaden, bis dass sie zum Tode geführt ist, dem Tod vor dem Tode, welcher die völlige eheliche Vereinigung zwischen ihr und Ihm ist. Bis dahin brauchen sie nur für sie offenbar zu werden, und sie braucht nur in den Staub unter sie zu sinken und ihr Werk tun zu lassen. Sie muss in Regungslosigkeit unter alles niedersinken. Nur so wird sie frei von allem Bösen und kommt zum Genuss alles Guten. Nur so kann Er sie bis zum Ziel ganz hindurchführen.

2,16) Der Bräutigam ist weg, aber sein Besuch hat ihr die Gewissheit gegeben, dass alles fortschreitet, wie es soll. In dieser Zeit ist sie gewiss, Ihn zu besitzen und die Seinige zu sein, auch während seiner Abwesenheit. Mein Geliebter ist mein und ich bin sein. Trotz ihres Widerstands ist sie die Seinige. Ihr Herz sagt ihr, dass sie nichts im Himmel noch auf Erden von Ihm scheiden kann, dass ihn nichts davon abhalten kann, wiederzukommen und alle Hindernisse für die vollkommene Vereinigung und allen unbegreiflichen Widerstand hinwegzuräumen.

2,17) Sie erwartet Ihn also mit Ruhe. Er hat sie frei gelassen, um sich von ihrer Furcht zu erholen, welche sie ergriff, als Er sie in sein Land hinausziehen wollte. Und sie hat Ihn freigelassen, um auf den Hügeln (all das Große und Schöne und Himmlische, wo Er sein Wesen hat) umherzustreifen, in der Hoffnung, dass Er wie vorher am Ende in ihr Innerstes hinein zurückkommen und dort mit ihr Umgang pflegen werde.