DAS 8. KAPITEL.

8,1-2) Es ist wiederum eine Zeit vergangen, seit der Bräutigam und die Braut zusammen gewirkt und gelebt haben in der oben angegebenen Weise. Sie sind vermählt, sie sind eins in dem Himmlischen, in dem verborgenen Leben. Sie ist in innerer Weise in Ihn verwandelt, und Er ist in derselben Weise in sie verwandelt, " worden. Aber dies hat seine Gültigkeit nur in seinem Land, d.h. in  dem Himmlischen. Die Menschen, unter denen sie in der Welt ist, sehen nichts davon. Sie sehen sie als eine gewöhnliche, kleine, unbedeutende an, und eine solche ist sie ja auch. Sie können gar nicht ihre Stellung in dem Geistlichen noch ihr rechtes Wesen ahnen, denn all ihr Sein und Wirken gehört zu der verborgenen Werkstätte Gottes. Jetzt sehnt sie sich aber danach, in ihrem Äußeren und in der Welt dasselbe zu sein, was sie in dem Himmlischen ist, so dass all das, was in seinem Land zwischen Ihm und ihr ist, auch in der Welt (der Mutter Haus) offenbart werden möge. Sie sagt: O wärest du mir gleich einem Bruder, der die Brüste meiner Mutter gesogen. Fände ich dich draußen, ich wollte dich küssen; und man würde mich nicht verachten. Ich würde dich führen, dich hineinbringen in meiner Mutter Haus, du würdest mich belehren; ich würde dich tränken mit Würzwein, mit dem Most meiner Granaten. Es ist schwer (und so fühlt sie es), das Verhältnis in der Mutter Haus verborgen zu halten, obgleich sie es verlassen hat. Dies mag scheinbar eine ihr unwürdige Kindlichkeit sein, aber in äußerer Weise steht sie ja wie einsam gegen eine ganze Welt, die sie hart drückt. Dies macht, dass sie Augenblicke bekommen kann von solcher Kindlichkeit. Der Bräutigam würde ihr wohl soweit entgegengehen, wie es möglich ist, aber nur zum Teil, und bisweilen kann Er etwas von ihrer innigen Gemeinschaft in der Mutter Haus (der Welt) offenbar werden lassen. Die Menschen dort sehen nur ab und zu einen Schimmer von ihrem wirklichen Wesen und von der Herrlichkeit, welche sie bei Ihm hat; und das, was sie bei ihr sehen, ist nicht nur etwas, was ihnen ans Herz greift, sondern auch etwas, was wie ein Bruch gegen ihre Sitten ist. Ihre Sitten stempeln nämlich ihr Wesen und Hervortreten als eine ungehörige Freiheit, weil sie gar nicht durch sie gebunden ist. Deswegen vergessen sie gerne die Blicke des Himmlischen, welche sie vielleicht bei ihr sehen durften, und beanstanden um so mehr die ungehörige Freiheit, und denken deswegen übel von ihr. Aber wenn es dazu kommt, kümmert es sie gar nicht, denn dann sieht sie aufs neue klar, dass die Welt im Grunde genommen weder von Ihm noch von ihrer Gemeinschaft mit Ihm etwas wissen will. Sie zieht sich deswegen zurück mit Ihm.

- In diesen Versen träumt sie nur davon, dass auch die ganze sichtbare Welt sein Land sein möge, so dass das Verhältnis zwischen ihnen geoffenbart werden könnte.

8,3} Aber in dem Himmlischen, das mitten in der Welt für sie eröffnet worden ist, und wohin die Blicke der Menschen nicht reichen, ist. ihre wunderbare Gemeinschaft mit Ihm immer offenbar und eine Freude für die Blicke der Engel, und auch für die Blicke der Menschen, welche in der Welt geistliches Gesicht bekommen haben. Da ruht seine Linke unter ihrem Haupte und seine Rechte umfasst sie. Die Einheit ist beständig und vollkommen. Er hält sie fest umschlossen in seinen Armen. Sie kann aus denselben nie entkommen. Sie erfährt beständig, wie überschwenglich groß seine Macht an ihr ist (Eph.1 ,19). Sie ist wie ein weit ausgedehntes Land voll Lieblichkeit, Frieden und Sabbath-Ruhe. Sie blickt in eine ewige Stille hinein, in die ewige Stille, aus welcher alles Wirken Gottes in einem mächtigen und überwältigenden Strom ausgeht, und sowohl die Himmel als auch die Erde überschwemmt. Mit stillen Augen blickt sie in diese Stille hinein, wie wenn eine Ewigkeit in eine andere blickt.

8,4} Die Braut sagt: Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, dass ihr nicht wecket noch aufwecket die Liebe, bis es ihr selbst gefällt. Zum dritten Mal beschwört sie hier die Töchter Jerusalems, nicht die Liebe zu beunruhigen noch zu stören. Und zum dritten Mal schläft sie an seinem Busen ein (Kap.2,7 & 3,5)! Es sind verschiedene Arten von Schlaf, den sie an diesen drei Stellen genießt. Die erste ist der Schlaf der Verlobungszeit, wo die gewaltigen Gefühle zur Ruhe kommen in dem Schlaf des Küssens; die andere ist der Schlaf der Entblößungszeit, wo all das, was hindernd zwischen Bräutigam und Braut steht, zur Ruhe kommt in dem Schlaf seiner Erbarmung, um zum Schluss in den Schlaf des Todes überzugehen. Die dritte Art ist der Schlaf der vollen Vereinigung, wo alles das, wovon sie geträumt hat in den Versen 1 & 2 (dass die sichtbare Welt ganz in sein Land eingegliedert sein möchte), zur Ruhe kommt in der vollkommenen ehelichen Sabbath-Ruhe, welche sie jetzt in Ihm selbst hat. Können denn die Töchter Jerusalems (die Gläubigen, die Vorhofs-Gläubigen), auch diesen letzten Schlaf stören? Ja, bis zu einem gewissen Grad. Wenn sie eine Seele in der Stellung der Braut sehen, werden sie ängstlich. Sie ist ja so ganz anders als sie; alles ist so merkwürdig bei ihr, sie wollen sie zurechtbringen, denn sie meinen, ihre Stellung sei etwas Unwirkliches und deshalb gefährlich. Und dann greifen sie sie an, wobei sie selbst meinen, dass sie ihr helfen. In einer eigentümlichen Weise greifen sie an, nämlich dadurch, dass sie ihr einzureden suchen, dass sie etwas sei, anstatt nichts. Könnten sie sie bloß dazu bringen, dass sie einsieht, dass sie einige Kraft, einigen Glauben, einige Gerechtigkeit, einige Vortrefflichkeit, einige Persönlichkeit hat, mit einem Wort; dass sie etwas sei, das den Menschen in die Augen leuchtet. Dann meinen sie, dass sie ihr geholfen und sie gerettet haben, und dann würde sie wirklich für die Welt und weltliches Leben gerettet sein. Aber sie ist nicht in dieser Weise zu retten, ebenso wenig wie ein Toter für die Welt zu retten ist, und dies weiß sie. Deswegen sind ihre Anstrengungen umsonst. Das einzige, womit sie ihr helfen könnten; ist, sie nicht zu beunruhigen noch zu stören, und deshalb bittet sie sie darum. Schließlich sehen sie in ihr einen hoffnungslosen Fall, und erfüllen deshalb ihre Bitte.

8,5a) Wenn die Töchter Jerusalems die Bitte der Braut erfüllt haben, und sie eine Zeit in Ruhe sein durfte, dann bekommen sie wiederum ein Traumgesicht, indem der Bräutigam für eine Weile ihre Augen für das Himmlische öffnet, das mitten in der Welt um die Braut ist. Bei diesem Gesicht rufen sie aus: Wer ist sie, die da heraufkommt von der Wüste her, sich lehnend auf ihren Geliebten? Sie sehen sie heraufkommen, ihnen entgegen. Sie kommt von der Wüste, dem Nichts herauf, wo die himmlische Vermählung geschehen ist, sich lehnend auf ihren Geliebten. Sie tritt Arm in Arm mit ihm unter die Menschen in der Welt hinein. Die Töchter Jerusalems wissen, dass sie sich eine lange Zeit hauptsächlich in der Wüste aufgehalten hat. Sie haben ihr Wüstenleben nicht begriffen, sie haben es als ein fremdes Leben gesehen, ein verächtliches Leben, ein von Menschen und Gott verworfenes Leben, und sie haben sich für besser als sie geachtet, und sie christlich bemitleidet, nicht ahnend, dass sie viel weiter gekommen ist als sie alle. Aber jetzt sehen sie einen Schimmer von dem, was das Auge sonst nicht sehen kann, nämlich die Herrlichkeit dieser Wüste. Und sie brechen aus in Erstaunen: Wer ist sie? Sie kommt, von der Herrlichkeit der Wüste umgeben, so dass ihre Augen überwältigt werden, denn sie selbst ist eine Wüste. Sie kommt von der großen Einsamkeit mit Gott, umstrahlt von ihr und sie ausstrahlend. Wenn irgendetwas, dann ist wohl dies eine direkte Botschaft von Ihm an sie. Sie fühlen einen Stich in ihren Herzen, wenn sie dies sehen.

Die Herrlichkeit der Wüste ist; sich lehnend auf ihren Geliebten. Sie wünschen sich, an ihrer Stelle zu sein. Sie wünschen sich die Wüste, welche in Wirklichkeit das ist, sich auf den Geliebten zu lehnen. Aber sie sind nie so hilflos wie sie gewesen, und vor ihrem Nichts schwindelt es sie. Solange das Traumgesicht dauert, verstehen sie, dass ihr Nichts die schönste und wunderbarste Stellung ist, welche es in der Welt gibt. Aber wenn es sich verflüchtigt, vergessen es einige von ihnen.

8,5b) Jerusalems Töchter sind jetzt von dem Schauplatz verschwunden. Bräutigam und Braut sind wieder allein, und der Bräutigam redet: Unter dem Apfelbaum habe ich dich geweckt. Dort hat mit dir Wehen gehabt deine Mutter, dort hat Wehen gehabt, die dich geboren.

Das ist ein Rückblick auf das Vergangene, den Er hier gibt, ein Rückblick, der sich erstreckt bis zum Anfang der Zeit, sowohl ihres persönlichen Lebens als auch ihres Geschlechts bis zum Sündenfall hin. Die göttliche Liebe ist so. Sie ist nicht etwas, was eines schönen Tages in eines Menschenleben anfängt. Wo sie ist, da ist sie von Anfang an, sowohl von Anfang des persönlichen Lebens an, als auch dem der Schöpfung. Jeder einzelne Mensch ist von Ihm geliebt, nicht nur von Anfang seines Lebens an,  sondern von der Schöpfung an; ja noch mehr, von Ewigkeit her.

Der Apfelbaum bezeichnet hier den Baum des Sündenfalls. Unter dem Baum war sie im Anfang der Zeit und fiel in der Versuchung, und bekam ihre Strafe dafür. Sie bekam aber auch die Verheißung von Ihm, dass Er den Kopf der Schlange zertreten werde in ihrem Herzen. Unter dem Baum ist sie zu ihrem persönlichen leben in der Welt geboren worden, und unter dem Baum hat sie für das Geistliche geschlafen; und das während all der Zeit, seit sie geboren wurde und bis Er sie weckte. Das heißt, sie ist geboren und schläft in der Erbsünde, bis Er sie daraus erweckt. Unter dem Baum weckte Er sie eben aus dem verdorbenen Zustand, worin sie war, da sie noch außerstande war zu allem Guten und zu allem Umgang mit Ihm und zu allem wirklichen Geistesleben, voll von Unreinheit und geistlichem Tod. Er weckte sie, um sie von allem Bösen zu erretten, um sie von allem zu entleeren, was der Welt des Sündenfalles gehört. Er will sie so leer machen, dass sie ganz von Ihm und seiner Welt erfüllt werden kann, um sie zu seiner Braut zu machen. Daran erinnert Er sie jetzt. Er zeigt ihr damit, dass sein Werk in ihr fertig ist, und dass sie sich jetzt mit Ihm darüber freuen kann, ganz von dem Lande ihrer Mutter (der Welt) zu seinem (dem himmlischen) übergegangen zu sein. Sie soll sich darüber freuen, dass sie jetzt von der gleichen göttlichen Natur ist wie Er, und sein Weib ist. Aber deswegen ist sie nicht sündenfrei, außer in Ihm. Sie kann für einen Augenblick in die Welt zurückfallen, und von dem Lob der Menschen in der Welt beschmutzt werden. Aber das geschieht in ganz anderer Weise als vorher, denn sie kann dort keine Ruhe mehr finden für ihren Fuß. Sie wird augenblicklich zurückgetrieben zu Ihm und seiner Reinigungsquelle. Es ist eine bestimmte und unwiderrufliche Grenze zwischen früher und jetzt bei ihr.

8,6a) Seitdem die Braut das Erinnerungsbild, das Er für sie aufgerollt hat, beschaut hat, und ihr ganzes Wesen ihr Ja zu allen und ihren Dank für alles gesagt hat, was Er mit und aus ihr gemacht hat, sagt sie ein weiteres Ja. Es ist ein Ja, welches das Jetzige und Zukünftige betrifft:

Lege mich wie einen Siegelring an dein Herz, wie einen Siegelring an deinen Arm. Dies ist nicht so sehr ein Werben um Ihn, sondern eine Feststellung seines absoluten Besitzerrechts an sie, eines Besitzerrechts, wozu sie mit Freuden ja sagt. Aber darin liegt auch eine Feststellung ihres Besitzerrechts an Ihn, denn wenn sie sein lebendiger Siegelring, sein Siegel, sein Stempel ist, so kennzeichnet Er ja mit ihr alles, was Ihm gehört; und Er ist auch selbst mit diesem Siegelring gekennzeichnet, der ihr gehört. Der Siegelring bezeichnet hier ein gegenseitiges Besitzen von allem, was sie beide besitzen, also dasselbe, was der Trauring bei uns bedeutet. Der Trauring bezeichnet auch Eifersucht von dessen Seite, der denselben trägt. Der Bräutigam ist unerhört eifersüchtig auf die Braut. Sein Besitzeranspruch ist ohne Grenzen, aber für sie, die wie ein Siegelring an seinem Herzen und an seinem Arm ruht, ist dies nur lieblich. Es ist mehr als Glück für sie, dass Er sie ganz und ausschließlich besitzen will, Er, der die Liebe selbst ist, Er, ohne welchen sie ganz einfach nicht ist.

8,6b) Sie fährt fort: Denn die Liebe ist gewaltsam wie der Tod, hart wie das Totenreich ihr Eifer; ihre Gluten sind Feuergluten, eine Flamme Jahwes. Wenn sie hier der Liebe lobsingt, ist es der Bräutigam, dem sie lobsingt, denn Er ist die Liebe selbst, die Liebe, welche stark ist wie der Tod. Es gibt keine andere Liebe als seine. Der Mensch hat nicht einen Tropfen Liebe, der nicht aus seiner Liebe herfließt. Auf Golgatha zeigte sich das größte Wunder der Liebe. Da war sie nicht nur stark wie der Tod, sondern stärker. Sie ging mitten durch den Tod und das Totenreich, mitten durch Erde und Hölle geradezu an ihr Ziel. Sie beseitigte alle Hindernisse der Erde, der Hölle und des Himmels, und sie umschloss in ihren Armen die ganze Welt. Nicht ein einziger kleiner Mensch ist aus ihrem Busen ausgeschlossen. Der welcher ausgeschlossen werden sollte, müsste sich selbst ausschließen. Es gibt nichts, was nicht von der Liebe überwunden werden könnte. Wo sie ist, überwältigt sie unwiderstehlich alles. Ist sie bei einem Menschen, dann kann nicht davon die Rede sein, dass er über sie verfügen oder sie steuern kann. Sie geht ihren eigenen Weg und zieht ihn mit sich. Und sie verzehrt wie eine Feuersglut und wie eine Flamme des Herrn alles, was ihr im Wege ist. Es gibt nichts in der Welt wie sie, so majestätisch, nichts so Siegreiches wie sie. Ihre Macht ist zugleich furchtbar als unendlich mild. Und diese Liebe ist, wie gesagt, nur in dem Bräutigam, und nur aus Ihm kann sie zu den Menschen fließen. Das macht, dass die Braut für ewiglich von Ihm wie ein Siegelring an seinem Herzen und an seinem Arm getragen wird. Nichts kann sie von seiner Liebe trennen, nichts sie aus ihrer unbezwinglichen Macht entrücken, wie geschrieben steht: Denn ich bin überzeugt, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, noch Gewalten, weder Höhe noch Tiefe, noch irgendein anderes Geschöpf uns zu scheiden vermögen wird von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserem Herrn (Röm.8,38-39).

8,7) Ihr Lobgesang fährt fort: Die größten Wasser vermögen nicht die Liebe auszulöschen, und Ströme überfluten sie nicht. Wenn ein Mann allen Reichtum seines Hauses um die Liebe geben wollte, man würde ihn nur verachten.

Mit dem ersten Teil dieses Verses will sie sagen, dass weder äußere Not und Leiden, Missgeschick und Armut und Verkennung, noch innere Dürre und Verlassenheit, Untreue und Zukurzkommen, Sünde und Tod, von ihrer Seite die Liebe auszulöschen vermögen; weder bei Ihm als ihrer Quelle, noch bei ihr als ihrem Kanal; ebenso wenig wie sonst irgendetwas sie auslöschen könnte. Sie will weiter sagen, dass die Liebe etwas anderes ist als sie selbst, dass sie in ihr lebt und ihren Weg in ihr geht, unabhängig von ihr selbst, unabhängig davon, was sie ist und tut, denn sie ist der Herr selbst.

In dem letzten Teil dieses Verses redet sie davon, dass keiner die Liebe nehmen oder kaufen kann. Ihre Worte erinnern etwas an 1.Kor.13,3: Und wenn ich alle meine Habe zur Speisung der Armen austeilen würde, und wenn ich meinen Leib hingäbe, auf dass ich verbrannt würde, aber nicht Liebe habe, so ist es mir nichts nütze. -

Obgleich es Paulus hier von einer andern Seite sieht, nämlich dass man die Liebe nicht durch Nachahmung besitzen noch irgendeinen Nutzen von ihr haben kann, bedeutet dies auch, dass man sie nicht nehmen noch kaufen kann. Der, welcher von der Liebe getroffen wird, der und kein anderer wird getroffen. Es ist nicht der Mensch, der die Liebe ergreift, sondern die Liebe, welche den Menschen ergreift, und ihn als ihren Gefangenen mit sich zieht. So sucht und ergreift der Bräutigam den Menschen, und entzündet mit seiner Liebe Feuer in ihm, Ihr Suchen nach Ihm ist nur eine Folge davon, dass Er, ihr unbewusst, schon in ihr Feuer angezündet hat. Aber würde sie auf dem Weg ihrer eigenen Liebe zu Ihm kommen wollen, und also ihre Liebe als die ursprüngliche oder als eine Leistung betrachten, würde sie verschmäht werden; denn es wäre nicht die Liebe, sondern Eigenliebe, und auf dem Wege ist Er nicht zu finden. Aber Er sucht alle mit seiner Liebe. Es gibt keinen einzigen Menschen, dem seine Liebe nicht nachgeht. Der, der Ihm begegnen will, hat nur still zu werden, denn dann ist die Begegnung unvermeidbar.

8,8} Die Braut, die von dieser Liebe und dieser aufsuchenden Barmherzigkeit wie der Bräutigam voll ist, sagt zu Ihm:

Wir haben eine Schwester, eine kleine, die noch keine Brüste hat; was sollen wir mit unserer Schwester tun an dem Tage, da man um sie werben wird?

Sie sagt: Wir, da sie eins mit Ihm ist. Die Schwester ist hier die Vertreterin aller, welche die Berufung kennen, in ihrer Spur den Brautweg zu wandern, also die Vertreterin für  die, denen die Braut die Fackel des Brautweges überlassen kann. Aber die Schwester wird nicht nur als Vertreterin dargestellt, sondern auch als eine Einzelne. Die Braut begegnet jedem Einzelnen so, als ob er allein auf der Welt wäre. Das Blut des Bräutigams in ihr sehnt sich danach, sich für diese andere Seele zu geben, und deswegen fragt sie Ihn, was sie, Er und sie in Gemeinschaft, mit ihr tun sollen, wenn die Zeit kommt, da man um sie werben wird. Die Welt ist nämlich auch ein Riese und Seelengewinner in mancherlei Gestalt. Die Schwester ist ganz jung und unerfahren, sie weiß nicht viel von dem Kampf, der um sie geht. Sie ist eine Gläubige, hat die Berufung des Bräutigams empfangen, und steht also in dem Vorhofs-Christentum. Aber die Berufung geht darauf hinaus, dass sie dort nicht stehen bleiben soll, sondern sich weiter hinein in das Heiligtum des Christentums ziehen lassen soll, welches der Brautweg ist. Sie ist sich dessen noch nicht richtig bewusst, was dies in sich birgt. Sie ist eigentlich gleich nahe zu der Welt hin wie zu Christus, und die Welt in ihrer geistlich-weltlichen Form kann noch Aussicht haben, sie zu gewinnen, obwohl sie gläubig ist und Menschen zu ihr aufschauen. Vielleicht sieht sie sich sogar als weit gekommen im Geistlichen; aber das ist sie nicht, sie kann nicht geistliche Kinder aufziehen, denn sie hat noch keine Brüste.

8,9) Der Bräutigam antwortet:

Wenn sie eine Mauer ist, so wollen wir eine Zinne von Silber darauf bauen; wenn sie eine Tür ist, so wollen wir sie mit einem Zedernbrett verschließen.

Wenn sie eine Mauer ist, hat sie Voraussetzungen dafür, ein verschlossener Brunnen und eine versiegelte Quelle zu werden, eine, welche niemanden und nichts zu sich lässt, das nicht Er ist; auch nicht einen Gedanken, noch ein Wort in sich hineinlässt, das auf irgendetwas anderes als auf Ihn deutet. Ist sie eine solche Mauer, dann befestigen wir sie mit einer Zinne von Silber (Silber = die göttliche Wahrheit), d.h. dann sondern wir sie noch mehr für uns ab, so dass sie ganz von der Menge ausgenommen, und für die weltliche Geistlichkeit uneinnehmbar wird.

Aber es mag sein, dass sie sich als eine Tür erweist, also als eine Seele, in die jede Person und Sache ein- und ausgeht. Es gibt viele gläubige Menschen, welche Tür-Menschen sind, welche ständig auf ihren Angeln schwingen für alles, was eintreten will. Ihre Stellung ist mehr als schwebend und deshalb riskant. Solche Menschen verursachen dem Brautigam und der Braut viel Arbeit, denn wenn sie auch zum Schluss Mauer-Menschen werden, vergeht eine lange Zeit, da keine Sperre hält, nicht einmal wenn sie von Zedernbrettern gemacht ist. Aber ist die Schwester eine Tür, sagt Er, dann versperren wir sie. Es gibt nichts anderes zu tun, auch wenn es wiederum und wiederum gemacht werden muss.

Dieses Versperren der Tür-Menschen hat denselben Zweck, wie das Befestigen der Mauer-Menschen. Der Unterschied ist nur, dass das Befestigen bei einer schon überwundenen Seele geschieht, und das Versperren bei einer Seele, welche durch viel Mühe besiegt werden soll, um ein Mauer-Mensch zu werden.

8,10} Bei der Antwort des Bräutigams hat die Braut nicht vermeiden können, einen Blick auf sich selbst zu werfen; doch wohlgemerkt; auf sich selbst, so wie Er sie gemacht hat, und so wie sie jetzt in Ihm ist. Und sie ruft aus:

Ich bin eine Mauer und meine Brüste sind wie Türme; da wurde ich in seinen Augen wie eine, die Frieden findet.

Ihre Äußerung ist im Grunde nichts anderes als ein Ja und Dank zu Ihm. Sie ist zu der Wirklichkeit gekommen, ein verschlossener Lustgarten, ein verschlossener Brunnen und eine versiegelte Quelle zu sein; offen, weit offen für Ihn allein, Gegenstand für alle seine Gnade. Ihr Weg ist ein Vorbild für alle, welche zu ihrer Stellung kommen wollen, einer himmlischen Stellung, welche uneinnehmbar ist, befestigt gegen alles in der Welt und gegen alles Sichtbare, und unverschließbar offen für alles im Himmel und alles Unsichtbare. Es gibt nichts mehr, was etwas bei ihr genannt werden kann. Alle Weisen und Mittel sind für sie verschwunden. Es ist nur ein klares Nichts übrig  geblieben, das in seinem All ruht. Er allein mit seinem Wort und Macht und Willen ist ihr etwas, ihre Weise und Mittel.

8,11) Salomo hatte einen Weinberg zu Baal-Hamon; er übergab den Weinberg den Wächtern; ein jeder sollte aus seiner Frucht 1000 Silbersekel holen.

Als sie diesen Blick auf sich selbst wagt, sah sie auch etwas von ihrem Vergangenen. Das ist ihr Leben, bevor sie auf den Brautweg hereinkam, das sie hier als einen Weinberg des Bräutigams sieht. Da gehörte sie Ihm zwar im Glauben, und ihr Leben trug Frucht in dem Weltlich-Geistlichen. Aber sie stand nicht direkt unter Ihm, sondern unter seinen Wächtern, d.h. unter seinen Arbeitern, und sie durften den Ertrag davon genießen, ihre Seele aufzuziehen und zu leiten. Das Geistliche bei ihr blieb damals innerhalb des Sichtbaren stehen und wurde dort zur Frucht, zu solcher Frucht, welche erwähnt wird in Matth.6,2/5/16/19, von welcher es heißt: Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn empfangen. - Sowohl sie selbst als die Wächter bekamen da ihren Lohn. Da blieb nichts übrig für den Himmel.

8,12) Aber jetzt ist es ganz anders. Sie sagt: Mein eigener Weinberg ist vor mir; die Tausend sind dein, Salomo, und zweihundert seien den Wächtern seiner Frucht. Sie ist nun unter dem Bräutigam und hat es lange getan. Dies bedeutet, dass sie selbständig und das Privateigentum des Bräutigams ist, im Gegensatz zu den Wächtern in den sichtbaren Kirchengemeinschaften. Er hat ihr gegeben, selbst ihren Weinberg zu hüten (das irdische Leben, das sie noch in der Welt lebt), und das trägt große Frucht für den Himmel. Aber die Wächter, welche jedenfalls ihren gegebenen Auftrag haben, bleiben nicht ohne ihren Lohn, obwohl sie jetzt entweder solche sind, die ihren Lohn auf Erden ausbezahlt bekommen, oder solche, die ihn für den Himmel sammeln.

8,13) Die Freunde des Bräutigams, welche auch die der Braut sind, sind jetzt auf den Schauplatz gekommen. Der Bräutigam sagt zu der Braut:

Bewohnerin der Gärten, die Genossen horchen auf deine Stimme; lass sie mich hören! Dass sie die Bewohnerin der Lustgärten ist, bedeutet, dass sie mitten in der Welt in dem Himmlischen wohnt, und nur von denen gesehen und gehört werden kann, welche Gesicht und Gehör für das Himmlische haben. Das haben seine Freunde, die Geistlichen, und deswegen lauschen sie ihrer Stimme. Es sind sowohl die Bewohner des Himmels als auch die auf dem Brautweg noch wandernden, weit fortgeschrittenen Seelen, welche lauschen. Sie soll reden und singen, denn jetzt haben ihre Worte und ihr Gesang etwas, nicht nur ihnen, sondern auch Ihm zu sagen. Ihre Stimme ist für sie in hohem Grade helfend und fruchtbringend, und für Ihn das Lieblichste von allem.

8,14) Ihre Worte formen sich zum Schluss zu einem Gesang:

Enteile, mein Geliebter, und sei gleich einer Gazelle oder einem Jungen der Hirsche auf den duftenden Bergen.

Dieser Gesang ist ein Ausdruck von ihrem Nichts und von seinem All. Er mag tun, was Er will, und gehen wohin Er will; Er, der zu Hause ist auf den Höhen in dem Himmlischen, von wo Wohlgerüche hinunterströmen über den Brautweg. Mit diesem Lied lehrt sie auch die Zuhörer, wohin sie, je nachdem jeder fortgeschritten ist, den Blick zu richten haben, um Ihn zu schauen, und auf dem Weg zu Ihm zu bleiben. Sie sollen aufschauen zu den himmlischen Höhen, immer, ständig; und die Geistlichkeit von dieser Welt und alles, was bloß etwas ist, lassen. - Warum sucht ihr den Lebenden unter den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden - (Lukas 24,6-7). Das will sie allen sagen, welche auf Erden lauschen, und besonders denen, welche auf dem Brautweg einen Anfang gemacht haben. Überall, wo euer Blick etwas sucht, ist Er nicht, denn Er ist auferstanden und hinaufgefahren, und ebenso ist es mit der Braut. Sie existiert nur in Ihm und in dem, was Er tut. Deswegen ist sie von allem Etwas verschwunden, verschwunden in Ihm, aufgenommen auf die wohlriechenden Berge.